Schaustellerfamilie Nitzsche - Berlin

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    • Schaustellerfamilie Nitzsche - Berlin

      Bericht über den Schausteller Helmut Nitzsche aus Berlin.

      Die Kirmes, mein Zuhause

      Mit Dracula auf Du und Du: Die Nitsches sind Schausteller der fünften Generation. Ein Leben zwischen Zuckerwatte und Geisterbahn

      Von Beatrix Fricke
      Foto: Marion Hunger
      Marion Hunger
      Die Schausteller Helmut und Christiane Nitsche mit ihren Töchter Victoria und Antonia

      Es quietscht und hupt, sirrt und quäkt, wummert und flimmert auf dem Festgelände am Jahnpark. Wie jedes Jahr feiert Neukölln mit einem großen Rummel den Mai. Die Auslagen der Süßigkeitenstände quellen über von Liebesperlen und Lebkuchenherzen, es duftet nach Popcorn und gebrannten Mandeln. Und während auf den Karussells kreischende Kinder herumwirbeln, erhebt sich vor der Geisterbahn Graf Dracula aus seinem hölzernen Sarg. Mit tiefer Stimme beginnt er zu sprechen.
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      Info: Schausteller und Volksfeste - Daten und Zahlen

      Zwei Mädchen betrachten gebannt das gruselige Schauspiel. Jedes Wort des Vampirs murmeln sie mit, jede Kunstpause halten sie akkurat ein. Die Umstehenden staunen - bis die Mädchen das Geheimnis lüften. Dracula gehört quasi zur Familie: Victoria (15) und Antonia (9) sind die Töchter des Berliner Schausteller-Ehepaars Nitsche, Betreiber der Geisterbahn "Tanz der Vampire" und in der fünften Generation im fahrenden Gewerbe tätig.

      Als andere Kinder das Sandmännchen kennenlernten, war die blonde Victoria schon bestens vertraut mit dem Kabinett des Grauens. "Als der Vampir mal repariert werden musst, erzählte sie allen: 'Draculor is' in Reptur'", sagt Vater Helmut Nitsche (43) lachend. "Da war sie gerade mal drei Jahre alt." Die Leidenschaft für die Kirmes ist geblieben. "Wenn ich groß bin, möchte ich den 'Tanz der Vampire' weiterführen", sagt die 15-Jährige selbstbewusst. Auch ihre Schwester Antonia kann sich kein anderes Leben vorstellen. "Der Festplatz ist mein Zuhause", erklärt die Neunjährige bestimmt.

      Wenig Zeit für die Familie

      Dabei verlangt das Leben auf dem Rummel der Familie einiges ab. Um 6.30 Uhr klingelt der Wecker von Christiane Nitsche, um ein Uhr nachts fällt sie "todmüde" in das Bett im 13 Meter langen, eleganten Wohnwagen, der auf dem Areal hinter den Fahrgeschäften und Buden parkt. Dazwischen weckt die 38-Jährige Victoria und Antonia, bringt sie zur Schule und holt sie ab, putzt, bereitet Mahlzeiten zu, wäscht die persönliche Wäsche und die Arbeitskleidung der acht Angestellten, dekoriert die zwei Süßwarenstände, die die Familie zusätzlich zur Geisterbahn betreibt, bringt die Kinder um acht Uhr abends ins Bett und sorgt dann für Nachschub an Schokofrüchten oder sitzt an der Kasse - bis die Kirmes um Mitternacht schließt. Saison ist für sie von März bis Mitte August, an sieben Tagen in der Woche. "Für Unternehmungen mit den Kindern oder auch nur gemeinsames Fernsehen bleibt da keine Zeit", sagt sie.

      Solche Momente versucht Christiane Nitsche in der kühlen Jahreszeit nachzuholen. Im Herbst ist Papa Helmut allein mit der Geisterbahn in Deutschland und Österreich unterwegs. Die Mutter und die Mädchen bleiben in Berlin. "Viele Kinder von Schaustellern reisen mit, leben in Pflegefamilien oder im Internat", sagt Christiane Nitsche. "Das kam für uns nicht infrage." Victoria und Antonia gehen das ganze Jahr über in eine Schule in Charlottenburg, "weil die von den Berliner Festplätzen und unserem Winterquartier, einem Haus in Reinickendorf, am besten erreichbar ist". Zur Weihnachtszeit wird der ganzen Familie nochmal viel abverlangt. Wenn andere Kinder mit den Eltern Plätzchen backen oder rodeln gehen, stehen Christiane und Helmut Nitsche am Schwenkgrill oder in der Glühweinhütte "Blöd" findet das Antonia.

      "Die Weihnachtsmärkte sind purer Stress, aber sichern unsere Existenz", sagt Helmut Nitsche, der in der Familie für die Zahlen und die Technik zuständig ist. Denn der Betrieb eines Fahrgeschäfts ist kostenintensiv. Die voll computergesteuerte Geisterbahn (Wert: eineinhalb Millionen Euro) muss ständig gewartet und mit Neuheiten ausgestattet werden, für den Transport sind sechs Lkws und für den Auf- und Abbau viele Stunden Zeit und Personal nötig. Standgeld und Stromkosten belaufen sich bei einem Fest wie den Neuköllner Maientagen auf rund 12 000 Euro. Gute Einnahmen verspricht das Geschäft indes nur etwa fünf Stunden am Tag, "zwischen 16 und 21 Uhr - vorausgesetzt, der Wettergott ist uns gnädig", so Helmut Nitsche. "Das sehen die Leute natürlich nicht, die sich über den Fahrpreis von 2,50 Euro beschweren."

      Das lange, harte Arbeiten, das Risiko, die Tingelei und das Leben im Wohnwagen unter permanenter Beschallung führen dazu, dass Schausteller meist unter sich bleiben. Man trifft sich auf den Festen immer wieder, lernt sich kennen. Auch Helmut und Christiane Nitsche sind zusammen aufgewachsen. "Als Christiane geboren wurde, hat sich mein Vater über ihr Bettchen gebeugt und gesagt: 'Das wird mal meine Schwiegertochter'", erzählt Helmut Nitsche. "Leider hat er unsere Hochzeit 1992 nicht mehr erlebt." Christiane ist Spross der traditionsreichen Schaustellerfamilie Müller. "Nach dem Krieg haben mein Opa und mein Vater auf Trümmergrundstücken Feste veranstaltet", erzählt sie. Helmut Nitsches Ur-Ur-Großvater begann Anfang des 20. Jahrhunderts mit einer Tierschau. "Später kamen ein Kinderkarussell und eine Schießbude dazu und 1953 die Geisterbahn." Sie war komplett aus Holz, wurde mechanisch betrieben und mit der Eisenbahn durchs Land gefahren.

      Ein Wohnwagen für die Töchter

      Victoria und Antonia lieben die alten Geschichten. Genauso wie ihr aktuelles Umfeld, das Victoria als "riesengroßen Spielplatz" empfindet. Dass sie schon immer selbstständiger sein musste als andere Kinder in ihrem Alter, hält Victoria eher für einen Vorteil: "Seit zwei Jahren schlafe ich mit meiner Schwester in einem eigenen Wohnwagen - ist das nicht cool? Dafür kann ich Antonia auch mal ein paar Spaghetti kochen." Antonias Höhepunkt war der Tag, an dem Papa sie mit dem Lkw von der Schule abholte: "Da haben die anderen Kinder ganz schön gestaunt!" Was beide Mädchen nicht mögen, sind Mitschüler, die nur mit ihnen befreundet sein wollen, um umsonst auf der Kirmes zu fahren. Und dann gibt es die Eltern, die ihren Kindern den Umgang mit Victoria und Antonia verbieten. "Für manche sind wir Zigeuner, für andere Millionäre", schildert Christiane Nitsche die Palette der Vorurteile. "Leider kann ich sie nur selten von der Wahrheit überzeugen, denn zum Elternabend am Mittwoch schaffe ich es nie: Da haben wir Kindertag."

      Victoria hat einen Weg gefunden und sich allein durchgeboxt. "Mittlerweile ist sie Konfliktlotse und Klassensprecherin", sagt Papa Helmut stolz. Ihren Wunsch, die Geisterbahn in die nächste Generation zu führen, unterstützt er: "Bei dieser Arbeit bleibt man fit - und hat vor allem stets die Familie um sich."


      Quelle: Schausteller Nitzsche


      Gruß

      Hermann